Montag, 23. Mai 2011

Hochkultur?

Oje, mit dieser Überschrift bringt man sie alle gegen sich auf. Warum also so eine blöde Überschrift?

Merce Cunningham, "Nearly 92" bei den Wiesbadener Maifestspielen. Das Stück wird so nur noch wenige Male aufgeführt, hat der Choreograph, der nicht mehr unter uns weilt, vor einiger Zeit beschlossen. Ich bin gespannt, habe mich vor Jahren mal mit John Cage beschäftigt, in dessen Umfeld ich zwangsläufig auf Cunningham stieß. Irgendwie erwarte ich, dass ich Dinge erkenne, wieder erkenne und sich eine ungezwungene, ausgelassene Stimmung einstellt, wie sie auch zu den besten Zeiten der beiden C's geherrscht haben mag. Der geneigte Leser ahnt es schon - nichts davon tritt ein. Vor meinen Augen läuft eine sehr distanziertes, artifizielles Tanzstsück ab, das meine Sinne so gut wie nicht anspricht (Ausnahme: Licht). Die "Musik" besteht aus original handgemachten elektronischen Verfremdungen und berührt mich nur, wenn der E-Bass spielt, tiefe, sonore Quinten.

Das kann ja mal passieren: man wohnt einer Veranstaltung bei, die den eigenen Nerv nicht trifft. Das Publikum klatscht und johlt frenetisch. Ich fühle mich ausgeschlossen. Könnte es sein, dass die alle besser bescheid wissen als ich? Könnte es sein, dass die alle nicht so gut bescheid wissen wie ich? Könnte es sein, dass die alle einfach nur fesziniert sind von der Leistung der Tänzer? Könnte es sein, dass die alle nur begeistert sind, weil man für 50 Euro nicht enttäuscht sein möchte?

Diese Veranstaltung hatte auf jeden Fall ihre Berechtigung. Sie hat mich nicht angesprochen, war aber der Kunst verpflichtet. Die Maifestspiele haben auf jeden Fall ihre Berechtigung. Wiesbaden öffnet sein Fenster zur internationalen künstlerischen Avantgarde, ganz ohne Ironie sage ich das. Aber wie wollen wir, die wir dort eine Karte kaufen und eine Ansprache erhoffen, die "jungen Leute" an diese Art von Hochkultur binden, um diese zu erhalten? Ist das überhaupt erstrebenswert? Bedeutet das nicht auch, die Klassengesellschaft zu befördern? Wer braucht das alles?

Im Nachhinein lässt das Ballett ungewohnte Saiten in mir klingen. Der berühmte Kulturpessimismus schleicht sich an, aber auch das Gefühl, selbst ein Fossil zu sein. Cunningham hat verfügt, dass seine fossile Choreographie in der Ausstellungsvitrine des Videofilms landet. Da gehört sie für mich auch hin. Doch der Einzelfall kann nicht davon ablenken, dass unsere Kultur Bocksprünge macht, von denen wir "Alten" nichts wissen können. "Nearly 92" ist nur eine Gelegenheit, die mich an der langfristrigen Existenz unserer kulturellen Ereignis-Landschaft zweifeln lässt. Wir jagen und sammeln aus Angst. Gesammeltes gibt uns unsere Identität.

Die Jungen sammeln nicht. Für sie bleibt nur der Augenblick, zu wenig, um mit der "Hochkultur" warm zu werden.


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